Wenn der Gletscher an die Haustür klopft...
Unscheinbar steht das eingeschossige Häuslein im Schatten seines grossen Nachbarn, an den es angebaut wurde. Man deckte es mit einem Pultdach, wie es sonst nur bei Wirtschaftsbauten wie Sägen und Mühlen oder bei unbedeutenden Kleinbauten der Fall ist.
Ungewöhnlich ist auch die Geschichte des Gebäudes: Es handle sich ursprünglich um ein Gädi (Stallscheune), das auf der Alp im Bode, laut anderen Angaben an einem unbestimmtem Ort am Gornergletscher gestanden habe. Als dieser vorrückte, sei es dort oben abgebaut und hierher transportiert worden. Autoren wie der aus dem Elsass stammende alpenbegeisterte Christian Moritz Engelhardt, der 1835 bis 1839 jährlich in Zermatt weilte, der englische Alpinist John Tyndall (1890) oder der Walliser Priester und Forscher Moritz Tscheinen (1859, zitiert bei Holzhauser 2008) gehen von 40 bis 50 Bauten aus, welche die vorstossende Gletscherzunge zerstörte. Einige wurden an den bedrohten Plätzen in der Region Furi rechtzeitig abgebaut, weggebracht und tiefer unten in Fleschen, zum See oder an anderen Orten wieder aufgerichtet.
So erzählt der Zermatter Josef Schuler heute, wie bereits sein Vater (ebenfalls Josef Schuler, geboren 1919) aus der mündlichen Überlieferung berichtete, dieses Gebäude komme „vam Gletscher üsa“, das heisst vom Gornergletscher her, aus dem Gornerli, wo sich einst zwei Siedlungen befanden. Das alte Bauholz ist im südlichen Wohnteil klar erkennbar. Den nördlichen Teil des Baus und die Dachkonstruktion hingegen erstellte man hier zum See aus neuem Holz.
Zur Geschichte dieses Gletschers lasen wir (Seite 127ff.) einen einschlägigen Beitrag von Hanspeter Holzhauser. Angesichts drohenden Verlusts von Hab und Gut rettete man insbesondere das gesuchte Holz, vor allem das fixfertig bearbeitete Bauholz (siehe den Beitrag von Klaus Julen zur Waldwirtschaft, Seite 106ff.).
Überraschend ist im vorliegenden Fall, dass man aus einem Landwirtschaftsbau einen Wohnbau machte – das Umgekehrte ist die Regel, wie mehrere Objekte entlang des Kulturweges zeigten.
Die Analyse der Holzjahrringe weist auf eine mehrphasige Baugeschichte. Im südlichen, älteren Gebäudekörper finden sich acht Kanthölzer aus dem Zeitraum 1467–1484. Damals griff man auch auf älteres Material zurück: drei Kanthölzer datieren um 1406. Eine zweite Bauphase ist auf das Jahr 1594 anzusetzen. Davon ist der an der Südfassade ersichtliche First erhalten. Ein dritter Eingriff erfolgte 1924, als man einen Nordteil anbaute und dem gesamten Bau neu ein Pultdach aufsetzte. Damals transportierte die Familie auch einen Giltsteinofen aus ihrem Haus in Blatten hierher. Offenbar sah man vom alten Bau noch die Binna mit der Jahreszahl 1594 und eine eingeschnitzte Zimmermannsaxt – man übernahm Zahl und Symbol auf die neu platzierte Binna und setzte das aktuelle Jahr dazu.
Wann das Gebäude abgerissen und von der Alp herunter zum See gebracht wurde, ist nicht auszumachen. Denkbar ist, dass der Bau um 1406 bzw. in den 1460er bis 1480er Jahren entstand und baulich verändert wurde. Vielleicht wurde er 1594 abtransportiert, wovon vor dem Umbau die Zahl auf der alten Binna zeugte. Damals war ein kritischer Moment: Wie Holzhauser nachzeichnet (Seite 129ff.), setzte bereits mit den endenden 1560er Jahren eine Klimaverschlechterung ein, die um 1600 an einigen Orten zu einem Hochstand der Gletscher führte. So erscheint es plausibel, dass man aus der Alpe im Boden in den 1590er Jahren bedrohte Bauten fortschaffte.
Labornummern Dendrosuisse 2022: 621440-449 vom 16. August 2022
Koordinate 2 622 719 / 1 095 040
Parzellennummer GIS 3116, Gebäudenummer 2035 bzw. Nr.24