Was ist Dendrochronologie?


 

Fingerabdrücke der Zeit - in Holz

Rund um Zermatt stossen wir immer wieder auf alte Gebäude mit verwitterten Holzwänden. Wir möchten wissen, wann diese Bauten errichtet wurden. Einige tragen Jahrzahlen und wir lesen 1600 und etwas, 1700 und so weiter. Andere Gebäude, die noch altertümlicher anmuten, tragen weder eine Jahreszahl noch eine Inschrift. Wie weiter?

 

Hier kommt die Dendrochronologie zum Einsatz. Ihr Name leitet sich aus dem Griechischen ab: dendron heisst Baum, chronos ist die Zeit und logos ist die Wissenschaft, die Lehre von etwas. Also Baumzeitlehre. Wir finden damit das Alter von Hölzern heraus.

 

Und das geht so: Wie wir Menschen Fingerabdrücke hinterlassen, die einzigartig sind, haben auch die Bäume je nach Standort und Klima ihre speziellen Jahrringe. Die Abfolge dieser Jahrringe ist einmalig wie ein Fingerabdruck. Die Sequenz der Jahrringe des 20. Jahrhunderts beispielsweise ergibt ein ganz anderes Bild als etwa die des 19. oder des 16. Jahrhunderts. Durch Einpassen in die entsprechende Jahrringsequenz können Holzstücke sogar auf ihre jeweilige Vegetationsphase hin genau datiert werden, das heisst: Ob sie im Frühling, Sommer oder Herbst gefällt wurden. Damit ist die Dendrochronologie die genaueste Datierungsmethode für Holz.

 

Martin Schmidhalter mit seinem Labor Dendrosuisse in Brig sucht an alten Gebäuden zuerst einmal Hölzer mit einer Waldkante, dem letzten Jahrring, also nahe der Rinde. Mit einem Bohrer entnimmt er eine Probe von der Dicke und Länge eines Bleistiftes. Sorgfältig legt er die Holzprobe in ein schützendes Plastikprofil, nummeriert sie und beprobt weitere Hölzer, die erfolgversprechend aussehen.

 

Die nächste Arbeit geschieht im Labor: Der Blick ins Mikroskop ist oft ernüchternd, weil die eine oder die andere Probe zu weit von der Waldkante entfernt ist. Man sieht das letzte Jahr nicht, in dem der Baum wuchs und dann gefällt wurde. Andere Proben haben Jahre mit nahezu Null Wachstum, weil der Lärchenwickler aktiv war. Dies ist ein Schädling, der in regelmässigen Abständen ganze Wälder befällt und den Bäumen so viel Nahrung abzieht, dass ihre Stämme kaum mehr ein Wachstum zeigen. Dritte Proben zerbröseln, das Holz ist alt und morsch. Oft muss man zwei, drei oder vier Mal zum selben Gebäude zurückkehren und neue Proben entnehmen, auch um die Abfolge verschiedener Bauphasen richtig zu deuten. Der Dendrochronologe ist ein Gebäudedetektiv mit einer Menge von Geduld.

 

Wie gelangen wir nun zum Resultat? Durch Überlappung bestehender Jahrringkurven mit älteren Kurven kann eine Chronologie aufgebaut und auf der Zeitachse immer weiter zurück verfolgt werden. Aus alten, lebenden Bäumen ersehen wir die Jahrringkurven der letzten paar hundert Jahre, maximal 600 bis 700 Jahre zurück. Alte Gebäude (Holzhäuser, Burgen, Schlösser, Kirchtürme) weisen noch ältere Bauhölzer auf, deren Anfänge maximal ins 7. oder 8. Jahrhundert zurückreichen. Mit Hölzern aus Seen, Mooren und Gletschern (sogenannte Subfossilien) lässt sich der Jahrringkalender bis zur letzten Eiszeit zurückverfolgen, die in den Alpen um 13'000 vor Christus endete. Solche Hölzer wurden auch in Zermatt gefunden, namentlich am Gorner- und am Zmuttgletscher. Dank seiner inzwischen über 20jährigen Forschungsarbeit kann Martin Schmidhalter nicht nur Aussagen über die ältesten Bauten machen, sondern auch über den Stand der Gletscher und das Klima.